Wolf Lepenies: Kleine Welt der Namengebung

Gedanken zu Bildern Heinz Kassungs nach einem Besuch in Bubenheim - Von Wolf Lepenies

Künstler sollten ihre Werke bekanntlich bilden und nicht darüber reden. Auch der Betrachter bleibt vor Bildern am besten stumm - denn „parier peinture", wie Paul Valery es nannte, ist im Grunde genommen unmöglich. Und riskant dazu: Als ein Wegbereiter der modernen Malerei einst von Journalisten gebeten wurde, seine Werke zu kommentieren, lehnte er dies entsetzt mit den Worten ab: „Unterredungen mit dem Piloten sind verboten!" Und dennoch bleibt uns - wie in der Musik - nichts anderes übrig, als über Malerei auch zu sprechen. Jedes Kunstwerk provoziert sprachliche Reaktionen und bedarf der Verständigung mit Hilfe sprachlicher Mittel, und so unvollkommen zu seiner Beschreibung uns die eigenen und die fremden Worte jeweils erscheinen mögen - auch derjenige, der einsam ein Gemälde betrachtet, bleibt nicht sprachlos. Vielmehr spricht der Betrachter, der äußerlich stumm bleibt, mit sich selbst. Die Sprache dieser Fremd- und Selbstverständigung ist verschieden. Ist sie im Wesentlichen auf öffentliche Wirksamkeit und Absatzchancen bedacht, liegt die Gefahr des Jargons nahe; bleibt sie auf sich bezogen, droht das Abgleiten in einen privaten Dialekt, den kein anderer versteht.

Um beim Sprechen über die Bilder Heinz Kassungs diesen Gefahren zu entgehen, wähle ich ein Verfahren, das man als „Übersetzung" bezeichnen könnte: ich spreche über diese Bilder in einer Sprache, die ursprünglich für einen anderen Objektbereich galt. Ich meine die Naturgeschichte. Unter Naturgeschichte versteht man jene Form der Naturbeschreibung, die sich bis an das Ende des 18. Jahrhunderts hält. Es ist der Versuch, die Welt durch genaue und geduldige Beobachtung zu erkennen und sich die Gegenstände der Welt durch bestimmte Ordnungsverfahren - Klassifikationen, Taxonomien - einzuprägen, das heißt: anzueignen. Die Naturgeschichte ist eine Kunst des Findens, nicht eine Wissenschaft vom Erfinden. Es geht dabei weniger dämm, um jeden Preis Neues zu entdecken, als vielmehr dämm, Bekanntes präziser zu sehen und Unbekanntes zu bereits Vertrautem in eine plausible Beziehung zu setzen. Für dieses Verfahren derWelter- kenntnis und der Weltgewinnung ist ein Blick entscheidend, der dem bloßen Auge vertraut und voller Skepsis gegenüber allen Apparaten und Hilfsinstmmenten, wie etwa dem Mikroskop, bleibt. Die Naturgeschichte konzentriert sich bewusst auf Oberfläche und Außenwelt - im Vertrauen, gerade dadurch zum Kern der Dinge, zu ihrem Wesen vorzustoßen. Wissen entsteht durch genaues Hinsehen und durch die zusammenfassende Ordnung dessen, was das Auge erblickt. In diesem Sinne sind für mich die Bilder Heinz Kassungs, eines Malers, der findet und entdeckt, Ausdmck einer als Naturgeschichte verstandenen Malerei. Diese Bilder entstehen aus einem schöpferischen Impuls, der dem inneren Auge entstammt. Anders als wissenschaftliche Darstellungen sind sie dabei nicht die unmittelbare Folge einer Beobachtung. Bilder sind keine Ab-Bilder. Die Staffelei Heinz Kassungs, der alles andere als ein malender Stubenhocker ist, steht nicht in der freien Natur, sondern im geordneten und ordentlichen Atelier. Seine Malerei ist nicht im direkten Wortsinn gegenständlich: Heinz Kassung stellt keine Objekte dar, sondern rekonstruiert malend realitätsnahe Eindrücke, die ein bestimmtes Objekt hervorruft. Heinz Kassungs Bilder sind aber auch nicht abstrakt: mit großer Disziplin - und das heißt nicht zuletzt mit Farbsinn und Formgefühl - wird vielmehr den Eindrücken verwehrt, sich dem bloßen Spiel der erinnernden Fantasie zu überlassen. Der Bezug dieser Bilder zu einer bestimmten Wirklichkeit bleibt - hierin hegen Anstrengung und Risiko des Künstlers - stets erhalten. Auch wird in diesen Bildern, die auf eine sympathische Weise offen wirken, die Erinnerung daran gewahrt, dass es sich beim Malen um einen Prozess handelt, um ein Probehandeln, um ein Probieren und Basteln, das zwar einmal ein Ende haben muss, aber kein beliebiges Ende haben darf. Heinz Kassungs beste Bilderzeigen auch, dass der gute Maler weiß, wann er mit dem Malen aufzuhören hat.

Der Naturgeschichte hegt die Überzeugung zugrunde, dass sich in der kleinen, ausschnitthaften, wohl beobachteten Welt eines bestimmten Objektbereichs die große Welt spiegelt. Erst die Intensität in der Beschränkung, die Konzentration auf das Wesentliche lassen uns die Welt erkennen. Diesen Impuls spüre ich in den Bildern Heinz Kassungs. Die Artisten und die Clowns - es sind natürlich Leitmotive und vielleicht auch Markenzeichen. Zugleich aber stehen sie für mehr: für die Riskiertheit einer Bewegung, für die Bedrohung einer Existenz. Die Hummer und die Spargel - sie erwecken, denn Heinz Kassung meint es gut mit seinen Betrachtern und seinen Gästen, angenehme kulinarische Assoziationen und sind doch zugleich Belege allerhöchster malerischer Anstrengung, die Form und Farbe zur überzeugenden Stimmigkeit zwingt. Die kleine Welt - dazu gehören auch die Formate, die Heinz Kassung seinen Bildern gibt und die in ihren Ausmaßen nur unwesentlich variieren. An den Bildern Heinz Kassungs, die nie maßlos sind, wird deutlich, dass künstlerische Leistung sich vor allem in der Fähigkeit misst, sich im Rahmen zu halten - nicht daran, Rahmen beliebig zu sprengen. Diese Malerei setzt sich selbst strenge Grenzen und bezieht daraus ihre Wirkung; sie ist, wo sie besonders gelingt, besonders diszipliniert und gerade dort, wo sie anrührt, präzise durchdacht. Auch dem Laien fällt dabei auf, dass es sich hierbei um eine Malerei handelt, die sich selbst als Handwerk ernst nimmt, um eine Malerei, in der Empfindungen und Stimmungszustände durch malerische Verfahren gebändigt und kontrolliert werden. Sinnlich erscheinen diese Bilder etwa dadurch, dass ihre durchkomponierte Farbigkeit „stimmt". Es geht dabei stets um eine Frage der malerischen Technik und nicht um die Aufgeregtheit des Malers, der seine eigenen Seelenzustände dem Betrachter aufdrängt. Man muss vor allem Meister sein, das heißt, sein Metier beherrschen, wenn man große Werke schaffen will. Auch daran erinnern uns die Bilder Heinz Kassungs, dessen Bilder zugleich an ein anderes Problem der Naturgeschichte erinnern: die Namengebung. Auch der malende Künstler ist Demiurg, Schöpfer. Zugleich aber ist er, was oft vergessen wird, Adam, das heißt Namengeber. Kein Name ist, selbst wenn er nur aus einer Ziffer oder einem der Fantasie entsprungenen Symbol bestehen mag, beliebig. Heinz Kassungs Malerei hält die riskante Mitte zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Auch seine Namengebung riskiert dabei etwas: der Betrachter muss sich in der Regel nicht nur das Bild aneignen, er wird zugleich aufgefordert, den Namen des Bildes, den ihm der Künstler gegeben hat, zu billigen. Mir geht es mit den Bildern Heinz Kassungs so, dass ich nicht jeden seiner Bildnamen akzeptieren möchte. Ich betrachte vielmehr ein Bild, eines seiner Bilder, und glaube, es zu erkennen. Eben darum muss es so und darf es nicht anders heißen. Dies ist nicht immer der Name, den der Künstler selbst gewählt hat. Liegt darin ein Scheitern? Ja und nein. Ein Scheitern, weil es dem Künstler nicht gelungen ist, mich von der Plausibilität eines Namens in seiner eigenen kleinen Welt zu überzeugen. Kein Scheitern, weil das Bild auf einmal ein Objekt der großen Welt geworden ist, das auch mir gehört und das ich mir auf meine eigene Weise aneignen kann. Auch wenn ich als Betrachter kein Schöpfer hin, bin ich doch mein eigener Adam und taufe das Bild neu. Es gehört auf einmal mir. Ich habe es dem Künstler entrungen. Vielleicht zeigt sich gerade in einem solchen Verlust für den Künstler das Gelingen der Kunst.