Das Unsichtbare sichtbar machen oder über die Kunst, Beziehungen herzustellen

Werner Helmes über den Maler Heinz Kassung

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (Paul Klee)

In den milden Herbsttagen, als ich mit Heinz Kassung in seinem Atelier in Koblenz-Bubenheim, dort wo die Rheinebene sanft ins Maifeld aufzusteigen beginnt, Gespräche führte, wurde der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1985 bekannt - der französische Autor Claude Simon. Kurz danach las ich ein Interview mit Simon, das Erika Tophoven übersetzt hatte. Es ging darin um „Wirklichkeit", um das Wahmehmen und Darstellen von Wirklichkeit und die Rolle der Kunst bei diesem rätselhaften Prozess; denn über die Definition von „Wirklichkeit" sind sich selbst die Wissenschaftler unserer Tage noch längst nicht einig: Was ist, zum Beispiel, die Wirklichkeit, die Realität der atomaren Welt oder die Wirklichkeit des Universums, die unser Begriffsvermögen übersteigt? Die Überlegungen von Claude Simon zu diesen Fragen fand ich auch anwendbar und klärend für meine mit Heinz Kassung geführten Gespräche, Monologe und Dialoge, über seinen „Stil" oder seine Art zu malen, das heißt ja auch: Wie die Welt, die Wirklichkeit wahrnehmen und darstellen.

„Was uns interessiert", sagt Simon, „wenn wir zum Beispiel ein Bild von Cezanne anschauen, sind nicht die Äpfel darauf. Es geht auch nicht dämm, ob sie mehr oder weniger ähnlich sind, denn Tausende von Malern haben Äpfel gemalt, die so ähnlich aussehen wie die von Cezanne; sondern was interessant ist, das sind die Beziehungen, die Cezanne herstellt. Das heißt: es ist ihm gelungen, sie herzustellen zwischen dem runden Rand eines Tellers, der geraden Linie des Tischrands und den vier Seiten des Bildes. All diese Beziehungen von Form und Farbe interessieren uns - nicht die Reproduktion von Äpfeln. Lins interessiert also das Wie - wie Cezanne diese Äpfel produziert hat, die wir sonst nirgendwo auf der Welt mehr finden können." Das Herstellen von Beziehungen von Form und Farbe, sodass „Äpfel" entstehen in einem neuen, noch nie da gewesenen Beziehungsfeld: durch Kunst wird eine neue Qualität von Wirklichkeit sichtbar gemacht, einsichtbar auch für den Betrachter, eine andere, weitere Dimension als durch die Wiedergabe des nur Sichtbaren, wie es einmal Paul Klee im eingangs zitierten Satz epigrammatisch formuliert. Dieses Sichtbarmachen neuer Beziehungen war ja jener „Urknall" der Modernen Kunst - eine Art Lichtblitz, der die Augen und die Wahrnehmungsfähigkeit der Beschauer, die entweder realistisch oder romantisch eingestimmt waren, zuerst blendete und für eine Weile in Abwehrhaltung erstarren ließ. Altvertraute Gegenstände wie Äpfel oder die menschliche Figur, wurden aus einem vertrauten und tradierten Wahmehmungsbereich in einen neuen gerückt, vollführten eine Art von Quantenspmng; und daran mussten sich die Augen und die Gemüter langsam gewöhnen - ein Vorgang, der mir bis heute noch nicht abgeschlossen erscheint, aber auch durch permanent wechselnde „Moden" zusätzlich für Verwirrung sorgt. Heinz Kassung nennt im Gespräch immer wieder den Namen von Georges Braque (1882- 1963), der zusammen mit Fernand Leger und Pablo Picasso zu den Gründungsvätern der Moderne gehört und den neuen Begriff „Kubismus" in die Kunstgeschichte einführte. Kubismus will die dreidimensionale Mannigfaltigkeit, die Tiefendimensionen wiedergeben und scheut auch nicht vor Deformationen des Realen zurück, denn er will ja neue Beziehungen herstellen, das Sichtbare erst sichtbar machen durch die Anwendung neuer Kunst- oder Kompositionsgesetze.

Das ist bereits von Goethe in seiner kunsttheoretischen Schrift über die Kuh des Myron knapp mit der Feststellung formuliert worden: „Die Natur wirkt nach Gesetzen, die sie sich in Eintracht mit dem Schöpfer vorschrieb; die Kunst nach Regeln, über die sie sich mit dem Genie einverstanden hat." Und erbemerkt an anderer Stelle („Urphänomene"), dass nur die Fantasie der Natur gewachsen sei, während die Sinnlichkeit, das real Erschaute, von ihr beherrscht werde.

Auf das Ersinnen solch neuer Beziehungen von Formen und Farben verwendet der Maler Heinz Kassung viel Zeit und Geduld. Und auf dieses Thema kam unser Gespräch immer wieder zurück und erübrigte auch die banal-naiven Fragen: Warum er so und nicht anders male und zeichne? Wamm Fische oder Clowns seine ständig wiederholten und variierten Metaphern seien? Oder wie er die Farben mische und welche er bevorzuge? Und er antwortete darauf auch unbekümmert mit einem „Ich weiß es nicht". Er weiß nur eines: ein neues Bild wird misslingen, wenn er nicht vorher, vor dem ersten Pinselstrich auf die weiße Fläche sich klar geworden ist über die Ordnung, über die Funktionen der Objekte, die, wenn sie dann aus dem diffusen Untergrund ans Licht gekommen sind, selbst zum Subjekt werden, die von sich aus mitteilen, ob sie gelungen oder misslungen sind. Sie müssen aber „gemacht" werden, müssen sich in Form und Farbe manifestieren, wobei auch die Farbe die Rolle der Form übernehmen kann, denn auch die gerinnt ja im Augenblick des Anschauens zur Form - jenes „Anschauen" der Dinge und der Welt, das für Goethe, den Augenmenschen, eine andere gleichwertige Art des Philosophierens bedeutete.

Ähnlich verhält es sich mit der Plastik, die, ist sie gut gemacht, auch von einem Blinden ertastet und voll begriffen werden kann und ihm einen Eindruck von der Welt der drei Dimensionen vermittelt, in diesem Fall von ihrer Form, gleichsam abstrakt ohne das Farbenspektrum. Ich erinnerte an meine erste Begegnung mit „abstrakter" Kunst nach dem Krieg im Atelier des Malers Fritz Winter: auf den ersten Blick sahen seine ungegenständlichen, mit kosmischen Titeln geschmückten Bilder aus wie aus einem spontanen Impuls in kürzester Zeit entstanden: Spontan- oder Direktmalerei, wie sie heute wieder einmal von allen Zweigen der „Jungen Wilden" für sich beansprucht wird. Auf näheres Befragen aber zeigte mir der Maler jene Blätter und Entwürfe, die dem Spontanen vorausgegangen waren: sehr sorgfältig kalkulierte und austarierte Gebilde und Formen, ja Formeln und sich immer wiederholende Chiffren, die in Beziehungen zueinander und miteinander gebracht wurden, ehe sie als leuchtende Figurationen im „fertigen" Bild sichtbar wurden. Seither misstraue ich dem so genannten Spontanen, das nicht ein Stadium des voraufsgehenden Ordnens, Zuordnens und des Herstellens neuer Beziehungen durchlaufen hat. Diese Beziehungen können sich durchaus an etwas ausrichten wie Eisenfeilspäne am Magnet, das wir ungenau mit Mythos oder Symbol beschreiben, uralte Schrecken oder auch Erlösung, die jeder mit sich wie ein Erbgut herumträgt; die sich in Märchen erhalten haben: der böse Wolf, das Labyrinth, die Schlange, der große Fisch oder auch der Narr, der Clown, eine der von Heinz Kassung immer wieder beschworenen Figuranten seiner malerischen Szenerie: der Narr, der Clown balanciert wie der Künstler auf des Messers Schneide zwischen Verrücktheit und luzider Vernunft, zwischen Absturz und aufbrausendem Applaus, zwischen Tränen und Lachen. Aber wir kennen ja auch den Begriff der Freudentränen und den, dass ein Artist „traumwandlerisch" sicher über das Hochseil schreitet, Seiltänzer seiner selbst, äußerste Beherrschung der Mittel und des Körpers als eine spielerisch erscheinende Demonstration unser aller Existenz. Auch das ist nur möglich durch eine vorangehende präzise Koordination jeder Bewegung im dreidimensionalen Raum; und der menschliche Körper wird in eine neue, manchmal atemraubende Beziehung dazu gesetzt: auch das ist Kunst. Zirkuskunst, verschwistert dem Tanz und Schauspiel. Der Kassungsche Clown ist kein plärrender Spaßmacher, sondern ich beschreibe ihn in der Nachfolge des von Watteau gemalten „Gilles", des melancholischen Weltbetrachters. Bei Kassung steht dahinter eine eigene Bekanntschaft mit dem Zirkus und das Kennenlernen des großen Clowns Grock, der ja auch immer wieder in neue, verblüffende Beziehungen des Menschen zu den Objekten seiner Umwelt gerät und uns damit zu neuen Wahrnehmungen unserer selbst verführt. Kassungsche Clowns sind nicht aufdringlich, manchmal verschwimmen sie fast im Flächenhaften und materialisieren sich erst bei intensiverem Hinschauen, spiegeln sich in sich selbst und werden zum Reflex des Betrachters, der damit selbst eintritt in die neugeschaffenen Beziehungen des Bildes. Viele von ihnen blasen langstielige, lilienartige Trompeten, wie die Engel an gotischen Kathedralen. In einem der Bilder mit dem Titel „Harlekin und Pferd" ist die labile Balance zwischen Träumen und Realität als Komposition am eindrücklichsten gelungen. Die Kompaktheit des Realen löst sich auf, verschiebt sich und formiert sich zu neuer Sicht der Dinge. Folgerichtig nennt er eines seiner Bilder „Zellteilung" - heute im Besitz der Sammlung Haubrich. Es gibt einen „Akt am Strand", den er bis zum Rand der Auflösung abstrahierte, bis zu jener dünnen Spannungslinie, die lebendige Form gerade noch zusammenhält - eine Drehung zuviel an der Schraube, und die Figur würde mit dem Meereshorizont verfließen.

Und Kassungs „Fisch"? Warum nicht den Fisch als ständige Metapher verwenden, selbst entgrätet oder als Gräte? War doch der Fisch einmal das Symbol, das Erkennungszeichen der Urchristen, das Anagramm für Christus, in dessen Parabeln ja auch immer wieder der Fisch auftaucht. So hat er seinen Fisch zum einzigen Thema eines großformatigen Bildes gewählt, in dem ein exotisches, von uns ganz und gar verschiedenes Lebewesen schwerelos dahinschwebt im blauen Wasserelement, aber es könnte auch die Schwärze des kosmischen Ozeans sein und der Fisch ein Komet. Kassung hat übrigens keine Furcht, die Farbe Schwarz (wenn es denn eine Farbe ist) aufzutragen als Medium für einen phosphoreszierenden Blitz, der eine Urlandschaft aufleuchten lässt in vergangenen oder noch kommenden Zeiträumen. Und ich erinnerte an das Finale jenes berühmten Films von Federico Fellini „La dolce vita" vom Jahr 1960, der ebenfalls mit einem „Fischbild" schließt, als die übernächtigten und von Ausschweifungen müden Partygäste am Strand von Ostia Kühlung suchen und in die Augen eines von Fischern an den Strand gezogenen Meeresungeheuers starren - ein Finale von unvergesslicher, schauderhafter Bildkraft. Auch hier eine Verrückung gewohnter Sehweisen im Verhältnis von Gesellschaft und Natur.

So redeten wir denn an diesen milchig-milden Herbsttagen weniger über die das ganze Haus vom Eingang bis zum Atelier unterm breiten Dach ausfüllenden Bilder oder was sie im Einzelnen bedeuten sollten und gar nicht darüber, was der Maler sich dabei gedacht habe, sondern wir bewegten uns mehr in Spiralen um das, was Claude Simon das Herstellen von Beziehungen von Form und Farbe nannte und über das Wie. Und hierbei ergaben sich kongmente Übereinstimmungen mit dem Schreiben, Lyrik oder Drama und Prosa. Auch hierbei geht es dem Schriftsteller ähnlich wie dem bildenden Künstler: die Partikel des Realen, der umgebenden Summe von Welt, unverwechselbar neu miteinander in Beziehung zu setzen mit den Mitteln der Sprache, die reale Welt gleichsam unkenntlich zu machen, damit sie der Leser desto besser erkennt; jeder angestrengte oder vorgegebene „Realismus" endet im Kitsch, im so genannten „wahren Leben", das wiederzugeben nicht Aufgabe der Kunst sein kann. Aber dem Maler wie dem Autor ist mit einer leeren Leinwand oder einem weißen Blatt Papier nicht gedient: so geistreich er auch sein Material ordnet und miteinander in Beziehungen setzt - es muss sichtbar werden für die Welt. Es muss manifest werden, muss gemalt oder geschrieben werden... Claude Simon, um ihn zum Schluss nochmals zu nennen, hat dazu das Folgende geäußert: „Die Künstler... wollen nicht etwas sagen, sie wollen etwas machen. Nun reproduziert man aber auch nicht die Realität, man produziert etwas, was die Realität sein wird und das fragwürdige Beziehungen haben wird zur Realität der Welt..." Heinz Kassung sind solche „fragwürdigen Beziehungen" stets bewusst, wenn er ein neues Bild beginnt. Und er hat Glück, wenn viele Betrachter „seine Realität" anerkennen und sich in ihr wiedererkennen.